Nicht ganz dicht - Schweizer Städtebau
Eintrag von am 11.09.2016
Baulich verdichten, verdichten, verdichten, so lautet das Gebot der Stunde in der Schweiz, wo Boden knapp ist. Doch Verdichten heisst nicht zwingend in die Höhe bauen. Und Städtebau ist mehr als nur Architektur.
Baulich verdichten, verdichten, verdichten, so lautet das Gebot der Stunde in der Schweiz, wo Boden knapp ist. Doch Verdichten heisst nicht zwingend in die Höhe bauen. Und Städtebau ist mehr als nur Architektur.
«Grosse Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen», schreibt der österreichische Schriftsteller Robert Musil in seinem Werk «Der Mann ohne Eigenschaften». Er zeichnet darin das pulsierende Wien der 1920er Jahre nach. Grosse Städte glichen einer «kochenden Blase», die «in einem Gefäss ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht». Sie bestünden «aus Unregelmässigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstössen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem grossen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander».
Neuer Ort für das Quartier
«Das ist Urbanität», findet auch der Basler Stadtentwicklungsberater Philippe Cabane. «Und nicht das, was wir hier in der Schweiz mit urban verdichteter Bauweise meinen.» Am Rheinknie ist Cabane bekannt als «Mister NT-Areal». Auf dem damals brachliegenden Güterbahnhofareal der Deutschen Bahn im Norden Basels initiierte er im Sommer 2000 mit dem Verein k.e.i.m und 2002 mit der Vereinigung interessierter Personen (v.i.p.) die Zwischennutzung NT-Areal. Sie zielte darauf ab, durch kulturelle und soziale Aktivierung der Brache dem Standort Urbanität zu verleihen, noch bevor die ersten Bauten realisiert sein würden. Ab 2011 musste der Freiraum mit Bars, Klubs, Gastronomie und zahlreichen Quartierangeboten langsam dem bisher grössten Basler Siedlungsprojekt, der Erlenmatt, weichen. Dieses für Basel beinahe historische Vorhaben nahm seinen Anfang in den 1990er Jahren mit einem offenen städtebaulichen Wettbewerb, in einer Zeit, in der Basel an Einwohnern verlor, als vorausgesagt wurde, die Stadt werde weiterschrumpfen. 2004 wurde der Bebauungsplan rechtskräftig, womit die Planungsphase abgeschlossen war.
Der Kanton verzichtete darauf, das Güterbahnhofareal von der Deutschen Bahn zu erwerben, und entschied sich für eine partnerschaftliche Entwicklung des rund dreissig Fussballfelder grossen Areals, was die politische Linke in der Folge immer wieder als Fehler brandmarkte. Im Frühjahr 2016 hat das Basler Stimmvolk denn auch die kantonale Boden- initiative mit 67 Prozent Ja-Stimmen angenommen: Damit darf der Kanton sein Land grundsätzlich nicht mehr verkaufen, ausser er befindet sich in finanzieller Not. (Verweis)
Hoch, höher, am höchsten
Auf dem Erlenmatt-Areal sollten nach zähen Verhandlungen 700 Wohnungen entstehen, aber auch Platz geschaffen werden für Gewerbe- und Büroräume sowie eine Schule. Mehr als ein Drittel der Fläche sollte als öffentlicher Grün- und Freiraum gestaltet werden. Die Realisierung des Projekts ist ungeachtet der sich verändernden Bevölkerungsszenarien angelaufen - seit 2005 wächst Basel wegen der wirtschaftlichen Dynamik wieder um 1000 Personen pro Jahr - und wird schrittweise abgeschlossen. 2010 wurde der Erlenmattpark eröffnet und 2015 die Bebauung der Westscholle fertiggestellt. Die Arbeiten an der Bebauung der Ostscholle, wo weitere 800 Wohnungen geplant sind, sind noch im Gang.
Das Erlenmatt-Areal mit seinen grosszügigen Grün- und Freiflächen sollte ein Referenzprojekt werden für nachhaltiges Bauen, aber auch für Verdichtung - das Gebot der Stunde, in einem Land, in dem der Boden langsam knapp ist. Für den Basler Kantonsplaner Martin Sandtner ist das Areal «ein gelungenes Beispiel für die qualitative Verdichtung nach innen». Eine solche sei wichtig, um die wachsende Bevölkerung unterzubringen, denn der Kanton Basel-Stadt habe mit seinen 37 Quadratkilometern keine Bauzone auf der grünen Wiese.
Ein Augenschein vor Ort lässt den Besucher staunen: Verdichtung? Die Siedlung wirkt keineswegs baulich verdichtet. Die Bauten erinnern mehr an eine Vorstadtsiedlung draussen in der Agglomeration, als dass sie Grossstadtatmosphäre vermittelten. Hätte Basel nicht genau hier ein städtebauliches Statement abgegeben können? Wäre hier nicht Bauen in die Höhe angesagt gewesen?
Sandtner erklärt, Verdichten sei mehr als Bauen in die Höhe. Hochhäuser seien zwar vermeintlicher Inbegriff der baulichen Verdichtung, führten aber nicht automatisch zu höheren Dichten. Unter anderem wegen des Schattenwurfes bedürfe es grösserer Abstände zwischen den Bauten. Die höchste Dichte wiesen Altstädte auf, wie wir sie aus dem Mittelalter kennen. Kritisch sei hier allerdings die hohe Belegungsdichte gewesen, die zu schlechter Belüftung und letztlich zu Problemen mit der Hygiene geführt habe. Wie sehr man verdichten und in die Höhe bauen kann, hängt laut Sandtner letztlich jeweils von den örtlichen Gegebenheiten ab.
Ohne Dichtestress
So wurde, anders als auf dem Erlenmatt-Areal, in der sogenannten Schorenstadt, dem zweiten grossen Basler Siedlungsprojekt, sehr wohl in die Höhe gebaut. Das rund 38 000 Quadratmeter grosse Areal, ebenfalls im Norden der Stadt gelegen, gehörte einst dem Pharmakonzern Novartis, heute zu einem Drittel der Stadt und zu zwei Dritteln privaten Investoren. Insgesamt bietet es Platz für rund 800 Bewohner und besteht aus drei Teilbereichen: Ein- und Mehrfamilienhäusern, noch nicht fertiggestellten Genossenschaftswohnungen und zwei noch unbewohnten Hochhäusern namens «Sky Lights Schoren». Diese wurden neben bereits bestehende Hochhäuser gesetzt und wirken, eingefügt in die umliegenden Bauten, relativ schlank. Die Planer haben bewusst darauf verzichtet, die Ausnutzungsziffer, also den Dichtewert, auszureizen, haben versucht zu verdichten, ohne dabei Enge zu erzeugen. Das Bauvolumen wurde dem bestehenden Quartier angepasst: Die Reihenhäuser in der Schorenstadt haben eine Ausnutzungsziffer von 0,97, die künftigen Genossenschaftswohnungen von 1,1 und die Hochhäuser von 1,2.
Im Vergleich zu anderen Basler Wohngebieten ist das mittelmässig dicht. Die Bandbreite reicht von 0,2 (auf dem Bruderholz) bis etwa 3,0 (Kleinbasel). Auf dem Erlenmatt-Areal weisen die einzelnen Baufelder einen relativ hohen Dichtewert auf: zwischen 1,7 und 3,4. Inklusive der grossen Grün- und Freiflächen hat die neue Siedlung eine Ausnutzungsziffer von 1,1. Auch hier hat man versucht, die neue Siedlung dem Quartier anzupassen, in dem die von vier Seiten geschlossenen Blockrandbebauungen mit ihren Innenhöfen das Strassenbild prägen. «Das Bebauungsprinzip wurde für das Erlenmatt-Areal aufgegriffen und neu interpretiert», sagt Sandtner.
Bei beiden Projekten seien verdichtete Bauweisen gesucht und gefunden worden. «Wir wollen Städte weiterbauen, keine Brüche produzieren, wie es in der Vergangenheit allzu oft passiert ist.» Eine neue Siedlung solle kein Fremdkörper sein, keinen Inselcharakter haben. In beiden Fällen sei das gelungen. Was den Städtebau angehe, sei Basel revolutionär, es habe den Ruf einer Architekturstadt.
Im Fokus der Architektur
Deutlich weniger euphorisch äussert sich Philippe Cabane in Bezug auf das revolutionäre Basel. Der «Mister NT-Areal», der in Basel Soziologie, Philosophie und Humangeographie und in Paris Städtebau und Raumplanung studiert hat, beklagt eine «generell verkürztes Verständnis von Städtebau in der Schweiz». Hierzulande werde der Fokus zu sehr auf die Architektur gelegt, wodurch das Missverständnis entstehe, Städtebau sei ausschliesslich Bauen. In erster Linie werde dadurch die gesellschaftliche Dynamik vernachlässigt. Im Vordergrund stehe zu oft das «Was und Wo»: «Was wird wohin gebaut?» Gefragt werden müsse aber auch nach dem «Wer und Wie»: «Wer wirkt wie auf die Stadt?» - und vor allem: «Wie finde ich die richtigen Akteure?» Es seien die Menschen, die Quartiere planten und welche die zukünftige Identität und den Charakter eines Quartiers prägten.
Cabane hält wenig von grossen Masterplänen; eine alleinige Autorschaft bei einem grossen Wurf sei im Städtebau fehl am Platz, meint er und wünscht sich bei grossen städtebaulichen Vorhaben mehr «Methodenmix»: Die zur Verfügung stehenden Parzellen auf den zu bebauenden Arealen sollten von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Investitionsvolumen entwickelt werden. Damit würde ein vielfältigeres Publikum angesprochen. «Es sind die Menschen, welche die Stadt ausmachen», sagt Cabane. «Urbanität ist keine gebaute Form, sondern eine Lebensform ebendieser Personen.»
Aufwertung und Verdrängung
Die Partizipationsprozesse - die sogenannte Bottom-up-Planung, wie sie von den Basler Stadtentwicklern auf dem Erlenmatt-Areal erstmals durchgeführt wurde - findet Cabane zwar lobenswert, aber ebenso problematisch. Es mussten Wünsche und Anliegen der Bevölkerung nach Grün- und Freiflächen, ökologische Anliegen und die Verwertungsinteressen der Deutschen Bahn als Eigentümerin in einem politisch mehrheitsfähigen Masterplan untergebracht werden. Herausgekommen sei ein Deal unter vielen Beteiligten mit viel zu gross dimensionierten Freiflächen, auf denen man sich heute schon eine Verdichtung wünschte. Partizipation sei wichtig, doch wenn sie zu stark im Dienste der Schaffung einer politischen Mehrheit stehe, werde sie problematisch. Man solle den Menschen städtischen Raum geben, damit sie aktiv werden könnten. «Gebt den Menschen Platz, damit sie sich verwirklichen können», sagt Cabane, der sich bewusst ist, dass seine Forderung leicht abgedroschen klingt. Dennoch: «Kleine Innovationen sind für ein Stadtleben genauso wichtig wie grosse.»
Das Dilemma, dass Stadtentwicklung, dass Städtebau - wenn auch noch so sozialverträglich gestaltet - immer auch Aufwertung bedeutet, und Aufwertung immer auch soziale Verdrängung nach sich zieht, kann auch Cabane nicht lösen. «Letztlich wird mit der Schaffung von Lebensqualität auch Bodenwert generiert», sagt er zugespitzt. - Seine eigene, etwas andere Definition von Städtebau.
Ja, das Erlenmatt-Areal und die Schorenstadt seien «nett» und mehr Wohnsiedlungen als urbane, verdichtete Stadtquartiere, sagt Cabane. Eine pulsierende Stadt aber sei «niemals nett». «Eine pulsierende Stadt tritt einem in den Hintern. Das ist unbequem, hat aber den Vorteil, dass die Menschen in Bewegung bleiben.»
(c) NZZ, Zürich, Valerie Zaslawski 08.09.2016
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